Was uns die Kastanie gelehrt hat, Alice
“Von einem auf den anderen Tag besaßen meine Schwester Giulia und ich einen Kastanienwald, ohne die geringste Ahnung zu haben was wir damit tun sollten. Er gehörte meiner Familie bereits seit Generationen und sowohl für meinen Großvater, als auch für meinen Vater war der Wald eine wahre Leidenschaft. Hier hatten sie ihre Zeit verbracht und ihr Geld, sowie all ihre Mühen hineingesteckt. Großvater Saverio erzählte uns, dass die Kastanie einmal der “Baum des Brotes” gewesen sei. Denn das Holz nutzte man um sich zu wärmen, die Blätter wurden als Streu für das Vieh genutzt, die Frucht aß man, machte Mehl aus ihr oder man tauschte sie gegen andere Güter ein. Ein Grundstück – wie unseres – zu besitzen bedeutete, dass man reich war und für meinen Großvater waren all seine Bäume heilig.
Sofort nachdem er in Rente gegangen war, wurde ihm ein Bein amputiert. Trotzdem fuhr er jeden Tag mit seiner Ape in den Kastanienwald, setzte sich auf die Wurzeln seines Lieblingsbaumes, mit einem Gewehr im Schoß und wartete auf die Kastaniendiebe, die für ihn im Herbst wie eine Plage waren.
Meine Mutter verstarb bereits im Jahr 1998, als Giulia und ich noch klein waren. Somit wuchsen wir nur mit unserem Vater auf, der uns seine Leidenschaften – vor allem aber die Leidenschaft für den Kastanienwald – weitergab. Oder zumindest hat er es versucht, denn als Jugendliche interessierten wir uns sehr wenig für all dies und wollten einfach nur mit unseren Freunden zusammensein. In den letzten Jahren hingegen begleitete ich meinen Vater, wenn er zu den Kastanienbäumen fuhr und schaute ihm dabei zu, wie er die Pfropfstellen der Bäume bearbeitete, wie er den Rasen vor der Ernte mähte und hörte ihm zu als er über seine Bäume sprach. Ich war immer wieder erstaunt, wie viel er doch über diese Bäume wusste, denn er war ja kein studierter Botaniker, sondern ein städtischer Angestellter, der jedes Jahr im Oktober einen Monat Urlaub nahm, um die Kastanien in seinem Wald aufzusammeln. Auch wenn er es nicht Hauptberuflich tat, kümmerte er sich mit aller nötigen Sorgfalt um seine Kastanien, denn im Laufe seines Lebens hatte er eine ganze Menge über diese Pflanzen gelernt. Er wurde sogar eingeladen, um Konferenzen über dieses Thema zu halten und ab und zu begleitet ich ihn. Jedes Mal wenn wir zusammen waren und ich eine Frage hatte, stellte ich sie jedoch nicht. Denn die Art meines Vaters immer in der Zukunft zu leben, Pläne zu schmieden und darüber nachzudenken, was morgen ist, gab mir Sicherheit. Nichts überstürzen, sagte ich mir, wenn es soweit ist, wird er es mir schon erklären, vielleicht im nächsten Jahr, wenn gerade der richtige Moment ist. Heute bereue ich es, ihn nicht viel mehr gefragt zu haben.
Als wir den Kastanienwald geerbt haben, war der logischste Weg ihn einfach zu verkaufen. Wir waren schliesslich zwei junge Mädchen, die von alldem nicht wirklich viel Ahnung hatten. Es wäre alles viel einfacher gewesen, wenn wir ihn einfach weggegeben hätten. Aber diese Leidenschaft für den Kastanienwald, die wir vorher nie gespürt hatten, spürten wir auf einmal in uns. Vielleicht auch, weil unser Vater uns seitdem wir kleine Kinder waren hierher brachte. Und anstatt viel Geld mit dem Verkauf des Grundstücks zu verdienen, haben wir uns dafür entschieden jedes Jahr viel weniger Geld zu erhalten, indem wir die 25 Doppelzentner, die wir in einer guten Saison produzieren, verkaufen. Die Arbeit im Gegensatz zum Verdienst, ist um einiges höher. Die 350 Bäumen, müssten regelmäßig zurückgeschnitten werden, im September wird das Grundstück gemäht und dann sammeln wir für circa einen Monat alle Kastanien per Hand auf. Im Jahr 2013 und 2014 war die Ernte aufgrund einer Krankheit der Bäume und des schlechten Wetters sehr schlecht. Aber im Jahr 2015 und 2016 mussten wir zu sechst sein, um die sechs Hektar unseres Kastanienwaldes zu durchkämmen.
Ich liebe Kastanien, aber sie sind wirklich keine Frucht für jedermann. Wenn man sie isst, ist sie weich und süßlich, aber vor allem nahrhaft. Um sie essen zu können, muss man vorher jedoch hart arbeiten. Man muss sich bücken, um sie einzusammeln, bis einem der Rücken schmerzt. Man muss sich von ihrer dornigen Hülle in die Finger stechen lassen. Und man muss akzeptieren, dass man bei schlechter Ernte alles umsonst gemacht hat. Ich denke, dass es – zumindest für mich ist es so – im wahren Leben ungefähr genauso ist. Bis vor einigen Jahren war ich eine komplett andere Person. Ich war verschlossen, schüchtern und unsicher. Ich hatte niemals richtig den frühen Tod meiner Mutter überwunden und ich denke für meinen Vater war es genauso. Er jedoch versteckte seine Unsicherheit hinter einem unglaublich starken Charakter. Als auch mein Vater von uns ging, hätte sein Tod mich noch mehr einschüchtern können, jedoch hat er mich wachgerüttelt, mich Erwachsenwerden lassen. Von einem ängstlichen Mädchen bin ich zu einer erwachsenen Frau geworden, die offen für die Welt ist. Das heisst nicht, dass ich nun keine Angst mehr habe, aber ich kann nun besser mit ihr umgehen.
Den Kastanienwald zu behalten, hat sich im Nachhinein als die richtige Entscheidung herausgestellt. Denn so haben Giulia und ich einen Weg gefunden unserem Vater weiterhin nah zu sein und mit ihm zu sprechen. Er hat all dies erschaffen, hat sein ganzes Leben hier hinein investiert, hier ist er noch präsent. Wenn ich mich seinen Bäumen nähere, fühlt er sich so nah an, als könnte ich meinen Vater noch berühren. Jedes mal wenn ich hierher komme, ist es so als würde ich hin wiedertreffen.”
Drena
Die Ausbreitung des Kastanienbaums in der Region Trentino und in anderen Regionen liegt an der grossen Wertschätzung, die die Bewohner der Berge diesem Baum zuschreiben. Denn dieser war für sie ein wichtiger Bestandteil ihrer Ernährung – die Kastanien ist nämlich äusserst nahhaft und war ein wesentlicher Bestandteil der lokalen Diät – und nicht nur, wie uns der Grossvater von Alice erzählt.
Von dieser Vergangenheit, gibt es noch heute Spuren in den vielen Kastanienwäldern am Gardasee in Trentino, wie in den Wälder bei Drena, aber auch in Pranzo, Tenno und Campi, durch die die vierte Etappe des Garda Trek Top Loop führt. Heutzutage sind die Maronen (sie sind größer und noch schmackhafter als die normalen Kastanien) die Protagonisten auf vielen heimischen Festen, sowie in den Menüs der herbstlichen Küche und somit auch ein wichtiger Teil des Projekts “Vacanze con Gusto”.